Mama ist 65




Meine Mama ist nun 65.
Wir haben ihr eine große Feier geschenkt und ich habe beschlossen, die Rede, die ich dort hielt, hier zu veröffentlichen.
Man findet so viel von Töchtern, die ihrer Mutter viel vorwerfen und ihre Fehler breit treten. Hier ist was von einer Tochter, die die Fehler ihrer Mutter zwar sieht, sie aber nicht mehr breit treten möchte und sie ihr auch nicht mehr vorwirft.


Ich wollte über Mama reden, aber über wen genau, was genau?
Ich kann ja nicht einfach groß reden, so im Allgemeinen, im Großen und Ganzen, mal so ganz grundlegend.
Über Mama als Mama, als Valentina, als Frau, als Oma, als Schlaganfallüberlebende, als Christin, als Seele, oder ganz allgemein - als Mensch.
Über wen sollte ich was sagen? 

Ich überlege also, wenn ich an Mamas Stelle wäre, was würde mir gefallen? Was würde ich, an diesem Tag an dem das Leben, der Körper, die Seele, der Geist – alles 65 Jahre alt wird. Welche Worte würde ich an diesem Tag, an Mamas Stelle brauchen?
Und natürlich weiß ich es nicht.
Ich habe nicht Eltern, Schwestern und Freunde verloren, der Tod hat in meinem Leben nur Ansatzweise Einzug gehalten.
Mein Körper funktioniert einwandfrei und war noch nie an dem Punkt, an dem er sich auf den Tod vorbereitete.
Die Ehe ist mir fremd und vom Mamas Rolle als Mutter könnte nicht einmal eine andere 8-fache Mutter reden.
So muss ich mir eingestehen dass ich absolut keine Möglichkeit habe, mich in Mama reinzuversetzen.
Ich kenne sie, ja. Ich kenne sie gut. Aber ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, sie zu sein.
Ich kann nicht wissen, was ich an ihrer Stelle für Worte bräuchte, weil ihre Stelle weit entfernt von meiner ist. 

„Ich werde alt.“ Sagt mein Kollege in diese Gedanken und ich frage mich, warum man das sagen muss. Hatte man zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben das Gefühl, jünger zu werden?
Wir werden alle im selben Tempo älter. Auch wenn es nicht immer so aussieht. Auch wenn Mama 2008 schneller gealtert zu sein scheint, wir alle scheinen im Jahr 2008 schneller gealtert zu sein.
Wir werden alle alt.
Und wenn wir für einen kurzen Moment aufhören, das positive daran zu sehen, wenn wir zulassen, der glatten Haut und dem vollen Haar hinterher zu trauern.
Wenn wir zulassen, dass das Selbstmitleid uns beherrscht, für einen Moment,
wir es schade finden dass der Körper nicht mehr so dehnbar ist, wie er mit 10 Jahren war.
Wenn wir es traurig finden, dass Erinnerungen verblassen und zum großen Teil nur aus Geschichten bestehen, die wir in Fotos wie Bilderbücher lesen, manchmal ohne Gefühle, ohne Bezug. ohne Erinnerung.
Und wenn dann doch ein Geruch, ein Wort, ein undefinierbares Gefühl aufkommt, dass uns wieder auf Mamas Schoß sitzen lässt, das uns wieder in damals reinversetzt, wo man in einem Haus mit seinen Geschwistern lebte und lachte, sang, weinte, als man einen geliebten Menschen der Erde entließ.
Wenn wir es zulassen dass dieser Moment der Nostalgie nicht immer nur Glück und Freude in uns auslöst, sondern auch Tränen, die einfach nur Trauer bedeuten.
Wenn wir vermissen. Einfach nur vermissen. Das große, unendliche und doch zeitlich abgesteckte, uns scheinbar auffressende FRÜHER vermissen.
Wenn wir das alles für einen kurzen Moment zulassen, scheint alles traurig, alles so groß, so bedeutungsvoll bedeutungslos. Und doch fühlen wir anders, als die Person neben uns fühlt.
Anders als Mama, anders als Papa.
Wir sitzen alle im selben Boot, aber nicht alle können schwimmen und wir haben alle unterschiedliche Ausdauer und Rettungswesten. Und manche finden es auch noch romantisch in diesem Boot, während andere Panik bekommen.
Nein, ich weiß nicht was Mama heute für Worte braucht.
Ich weiß nur, welche Worte ich heute brauche. Und von welchen ich möchte, dass Mama sie kennt.

Wenn man eine Person nicht beim Namen nennt, neigt man dazu, keine Persönlichkeit dahinter zu sehen.
Kosenamen wie „Mama“, „Papa“, „Schatz“, „Oma“, „Opa“ verleiten uns dazu, die Menschen auf ihre Rolle zu beschränken.
Mama ist Mama. Sie hat mich zur Welt gebracht und lange habe ich mir keine Gedanken darum gemacht, wer Mama davor war. Wenn ich heute hier stehe muss ich checken, dass ich 62% ihres Lebens nicht dabei war.
Irgendwann nach vielen Umzügen, Auswanderungen, Beerdigungen, sieben anderen Geburten kam ich dazu. Und ich bilde mir ein, sie zu kennen weil ich sie mein ganzes Leben kenne.
Und „mein ganzes Leben“ ist das größte was ich sagen kann und doch sind es nur 25 Jahre. Mein ganzes kleines Leben. 

Mein ganzes, überglückliches, harmonisches, von Höhen dominierendes Leben.
Und meine Familie ist in diesem Leben immer der Punkt an dem sich alles wendet, der Punkt auf den alles hinausläuft,
der Punkt der stetig bleibt, in diesem Wirrwarr der sich Weltlauf nennt.
Der Punkt verändert sich, sieht immer anders aus, aber er ist immer da und immer an derselben Stelle. Immer da, wo ich ihn brauche.
Und Mama und Papa sind die, die diesen Punkt gegründet haben, ihn auf diese Welt gebracht haben, ihn groß gezogen haben.
Diesen meinen Punkt, meine Familie. Immer. Und nie habe ich an diesem immerwährenden Punkt gezweifelt.
Er wurde wackelig als ich nach Hause kam, Alex los fuhr um dem Rettungswagen den Weg zu uns zu zeigen, Papa Mamas bebenden Körper mit aller Kraft fest hielt, während ihr Körper sich von dieser Welt verabschiedete.
Dieser mein fester Punkt wackelte dort und in der Zeit danach.
Aber er blieb. Mama blieb.
Was man an seinen Eltern schätzt, was man von ihnen gelernt hat, realisiert man oft erst nach ihren Tot.
Und da wir alle die Zeit hatten, an der wir dachten, es wäre so weit, haben wir uns darüber Gedanken gemacht. Darüber, was von Mama bleibt.

Ich habe von Mama gelernt, zu sein.
Das Wohnzimmer von Mama und Papa war immer ein Wohnzimmer.
Ein Zimmer, in dem wir gewohnt haben.
Nach dem Familienbaden lungerten wir alle dort in unseren Bademänteln. Als Mama und Papa nach ihrem Urlaub nachts nach Hause kamen, weckten sie uns und hielten uns stundenlang im Wohnzimmer in ihren Armen. Am nächsten Tag entschuldigten sie uns von der Schule.
Im Wohnzimmer feierten wir Weihnachten, empfingen Gäste, aber vor allem verbrachten wir unsere Abende darin.
Und wenn man tagsüber am Wohnzimmer vorbei ging, sah man Mama nicht selten über ihre Bibel gebeugt. Es war normal.
Mama und ihre Bibel, die trotz vielem lesen immer neu aussah, war für mich etwas Erstrebenswertes. Ich wollte das auch. Dass meine Bibel so zu mir gehört wie sie immer zu Mama gehört hat.
Mama beim Bibel lesen gehört so in meine Erinnerung wie Mama beim Kochen. Mama hat mir nie Märchen vorgelesen, sie hat mir die Kinderbibel vorgelesen.
Sie liebte es am meisten, einfach mit uns zu sein. Hörspiele hören, singen, sich vorlesen, Musik hören, Predigten hören, Spiele spielen. Nichts spektakuläres, aber zusammen.
Man kann Mama und Papa bestimmt viel vorwerfen. Aber sicher nicht, dass sie wenig Zeit mit uns verbrachten. Niemals hatte einer von uns den Gedanken, Mama und Papa würden sich wenig Zeit für uns nehmen.
Und das bei acht Kindern. Das bei so vielen Freunden, das bei ihren Diensten.
Wenn sie da waren, wenn Papa von der Arbeit kam, Mama nichts zu tun hatte, dann waren sie ganz für uns da. Dann hatten wir sie ganz für uns.
Ich war noch klein als ich meine ersten nostalgischen Momente erlebte, ich nachts weinend zu Mama ins Bett kletterte und ihr ins Ohr flüsterte, damit Papa nicht aufwachte “Ich vermisse früher.”
Mama sagte einfach nur “Ich auch.” und hielt mich in ihren Armen.

Einer mein prägendster Momente war, als ich Mama mal sagte “Ich habe so einen dicken Bauch, ich sehe aus als wäre ich schwanger.” Mama sagte “Nein, das kann nicht sein.” “Doch”, sagte ich “wenn ich ihn nicht einziehe, sieht es so aus.” Mama sagte “Zeig mal.” Sie versprach mir, nicht zu lachen. Ich zog mein Tshirt hoch und ließ meine Wampe hängen. Und Mama lachte. Sie lachte aus tiefstem Herzen und für einen Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mich gedemütigt fühlen sollte, oder geliebt. Meine Mama lachte über meinen dicken Bauch. Und ich lachte mit. Sie fing garnicht erst an, mir einzureden dass ich dünn sei. Sie versuchte nicht, mir zu sagen dass ich TROTZDEM schön bin. Sie lachte einfach und sagte “Ist doch egal.” Und ich habe gelernt, es ist egal ob ich schön bin oder nicht.
Ich bin schön, aber wäre ich es nicht, wäre es auch okay.
Ich bin dankbar, mit einer Mutter aufgewachsen zu sein, die mich nie in meinem Schönheitswahn gepusht hat. Die durch ihre eigene, natürliche, tiefe Schönheit einfach da war und besseres zu tun hatte, als an sich oder ihrem Aussehen zu zweifeln und auch mir immer wieder sagte, dass auch ich besseres zu tun hätte.
Mama und Papa war es immer wichtiger, wie ich denke, wie ich rede, wie ich mich benehme, wie ich andere behandel. Und dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.
Ich bin dankbar, dass es die Lebensaufgabe und das Hobby meiner Eltern war, Eltern zu sein.

Ich kenne Mama erst seit 25 Jahren. Wunderbare 25 Jahre in denen sie mir genau die Mutter war, die ich brauchte.
Und ich kann ehrlich sagen “Ich würde nichts anders haben wollen.”
Mama bedeutet für mich zuhause, Gemeinschaft, Liebe.
In ihren 65 Jahren muss viel passiert sein, dass sie zu dem Menschen gemacht hat der sie ist und ich kann davon nicht reden.

Ich kann aber von dem reden, was in meinen 25 Jahren passiert, was mich zu dem gemacht hat was ich bin, und meistens war es Mama.