Da, wo ich stehe





Ich kann mich gut erinnern wie ich mit ungefähr 14 Jahren auf meinem Sessel vor dem Rechner saß, mir Fotos und Videos über Arme und Kranke in Afrika anschaute. Dort auf diesem Sessel habe ich das Leid der Welt zum ersten mal realisiert. Zum ersten mal habe ich gesehen dass die Wirtschaft meines Landes auf Kosten anderer basiert, dass Erwachsene selbst nicht nach den Grundsätzen leben, die sie ihren Kindern versuchen beizubringen. Ich schrieb damals einen Blogeintrag (dieser alte Blog ist mittlerweile gelöscht) darüber, dass wir die Welt verändern müssen. Eine typische Reaktion die ich immer wieder beobachte.
Es läuft meistens ungefähr so ab:

Phase 1: 
Mensch sieht Leid, sieht das nächste Leid, fühlt sich schlecht, fragt sich wie die ganze Welt so weiter machen kann
Empörung.

Phase 2; 
Mensch sucht Verbündete für den Weg zu einer besseren Welt, nimmt sich vor, anders zu leben.
Aufstand.

Phase 3: 
Mensch lebt doch genau so weiter wie vorher, verdrängt das Leid und denkt sich, das ist normal, ich kann ja nicht an alles denken.
Resignation.

So oder so ähnlich habe ich es selbst erlebt und beobachte es immer wieder. Wenn Menschen in unserer Umgebung in Phase 2 stecken, empfinden wir sie als nervig, als besserwisserisch. Und alle bleiben unterschiedlich lang in der Phase 2. Manche zählen stolz die Tage, wie lange sie schon ein besseres Leben führen.
Und dann kommt Phase 3 und entweder sie stumpfen ab, oder sie denken mit Wehmut an Phase 1 und 2 zurück, als sie noch empfänglich waren für das Leid, als sie die Welt noch zu einem besseren Ort machen wollten und der Meinung war, dass sie was bewegen könnten.
Aber irgendwann wurde das Leid so groß, man sah immer mehr, vielleicht ist man nie aus Phase 1 so richtig raus gekommen, man hat nur Leid empfangen und hatte keine Idee, einen Ausweg zu finden. Man konnte nicht zur Gewissensberuhigung bei einem Kinderheimaufbau in Afrika helfen, man wollte kein Vegetarier werden, hat nie ein Altenheim besucht und hatte zu wenig Geld oder Willen um zu spenden.
Und eigentlich wusste man auch gar nicht, wo man anfangen sollte, denn es gibt so. viel. Leid.

Ich steckte (wieder mal) in Phase 1 als ich in Bielefeld wohnte, wir im Hochhaus mit vielen Nachbarn im Hausflur standen und darauf warten, dass der Streit im zweiten Stock so ausartete, dass wir zur Hilfe eilen sollten. Als ich morgens an der Stadthalle entlang zur Straßenbahn ging und eine Frau leicht bekleidet auf der Wiese lag und mein Angebot, in meinem Bett zu schlafen nicht annehmen wollte. Als ich mit dem Fahrrad an einem Jungen vorbeifuhr, der ein Mädchen an den Haaren fest hielt und mir zu schrie, ich solle sie überfahren, sie hätte es verdient. Bis heute wünschte ich mir, ich hätte das Mädchen verteidigt.
Man tröstet sich mit: Ich kann nicht die Welt verändern. Ein Einzelner kann nicht viel ausrichten. Dazu braucht es Berufene.

Aber wie schön wäre es, wenn Phase 3 so aussehen würde:
Mensch tut sein Bestes für eine bessere Welt. Dort wo er steht.

Dort wo ich stehe. Das ist meine Familie, mein Ort in den ich nicht ohne Grund geboren bin, mein Beruf, meine Nachbarn, meine Gemeinde.

Kinder in Afrika haben nicht mehr zu essen wenn ich mich voll stopfe.
Ich kann nicht die ganze Welt dazu auffordern, auch Stars menschlich und respektvoll zu behandeln.
Ich kann den Nahrungsmarkt nicht dazu bewegen, das Obst bitte nicht mehr so zu bearbeiten damit Tiere es zwar für abartig empfinden, ich es aber essen mag.
Ich kann auch nichts daran ändern dass der größte Teil der Welt zu wenig Essen hat,
oder daran, dass so viele Menschen in ständiger Angst leben, von einer Bombe getroffen zu werden.

Aber ich kann meine Geschwister lieben.
Ich kann meinen Nichten und Neffen eine Tante sein, die ihnen dieses Leben und das erwachsen werden einfacher macht.
Ich kann mit meiner Nachbarin ihren Mann im Pflegeheim besuchen.
Ich kann meine Teens bedingungslos lieben und ihnen meine Seele zeigen.
Ich kann meiner Freundin in Trauer Hiob vorlesen.
Ich kann das Geschirr in der Gemeinde spülen
und ich kann beten.


Da wo ich stehe.

Ich kann mich nicht um jeden Menschen kümmern.
Aber sehr wohl um die, die mir anvertraut sind und das sind die, die da sind wo ich stehe.

Ich kann nicht die ganze Welt verbessern, aber das kleine Stück wo ich stehe, da kann ich viel tun und dort ist man auf mich angewiesen.

Ich kann da wo ich stehe, fest stehen.